Ich hatte das Pech, dass ich in einer Familie aufwuchs, die aus zwei "Gen-Familien" zu bestehen schien. Mein Vater war ein Zwei-Meter-Mann mit breiten Schultern, kräftig gebaut, meine Mutter ein zierliches Persönchen, die bereits einen Tag nach der Geburt ihrer Kinder wieder in ihre 36ger Röcke passte...
Meine älteste Schwester erbte offensichtlich die Gene meiner Mutter, konnte essen, was sie wollte, war immer schlank, dabei auch noch groß und wurde für ihre gute Figur stets bewundert und von meiner Mutter ebenso gelobt. Schwester zwei und ich erbten wohl dummerweise die Gene unseres Vaters. Wir wurden also etwas "kräftiger", mit deutlicher Oberweite - und wir konnten nicht essen, was wir wollten (glaubten wir wenigstens). Unsere Mutter schürte die Sticheleien zu diesem Thema gerne und häufig: "Schaut euch eure Schwester an, die ist schlank! Ihr müsst mal weniger futtern. Und kein Wunder, so unsportlich wie ihr seid!"
Ich hatte mit 20 Kleidergröße 38 - und dennoch das ständige Gefühl im Kopf, "zu dick" zu sein (alles, was eben über 36 lag, war gefühlt zu viel - das Erbe meiner Mutter...) Ich schwamm 1.000 m in dreißig Minuten - eine gute Leistung, die ich bis heute halte. Dennoch dauerte es Jahrzehnte, bis ich endgültig FÜHLEN (und damit anerkennen) konnte, dass ich NICHT unsportlich war.
Mit 26 erlitt ich eine Unterfunktion der Schilddrüse und nahm in sechs Monaten mehr als sieben Kilo zu. Ich war verzweifelt. Meine Oberweite war ebenfalls noch einmal größer geworden. Ja, ich hatte schlanke Beine, einen "knackigen" Po, doch auf jedem Foto (speziell im Sitzen) wirkte ich dermaßen breit, dass ich mich einfach nur noch schämte. Ich hatte damals das Gefühl, jeder starrte mir auf die Oberweite - und reduzierte mich darauf. Dabei fühlte ich mich weder sinnlich, noch sexy, sondern einfach nur "fett". Mein Rücken schmerzte und meine Oberweite war überall im Weg. Frauen, die mit dem Gedanken spielten, sich die Brüste vergrößern zu lassen, konnte ich überhaupt nicht verstehen. Wie gerne hätte ich mit ihnen getauscht! Jede Oberweite erschien besser als meine eigene. Modische Kleidung? Ein Horror! Jede Bluse musste ich zwei Nummern größer kaufen, am Bauch hatte ich dann so viel Stoff, dass ich noch breiter wirkte, weil alles an den Seiten senkrecht nach unten fiel. Und diesen Körper sollte ich lieben? Wie sollte das gehen?
Jahrzehntelang kämpfte ich mir regelmäßig die Kilos herunter - und sie kamen ebenso regelmäßig wieder zurück. Ich lernte viel über Ernährung, ließ mich sogar ausbilden, arbeitete als Ernährungsberaterin. Doch trotz gesunder, ausgewogener Ernährung und Bewegung änderte sich wenig an meinem schlechten Körpergefühl und meiner Kleidergröße. Ich suchte weiter und fing an, mich coachen zu lassen. "Deinen Körper musst Du Dir vorstellen wie ein Stück Ton oder Lehm, dass Du nach Deinem Denken und Fühlen formst." hörte ich da."Vergiß mal die Sache mit den Genen, stell die Uhr mal auf Null zurück." Ok, das konnte ich annehmen. "Alles was Du über Dich denkst, bewusst oder unbewusst, spiegelt Dir Dein Körper wider!" kam die nächste Information. Wie? Jetzt war ich auch noch selber schuld an meiner Oberweite? Das sollte ich mir "bestellt" haben? Ich wollte nie, nie, niemals so aussehen! Ich ging in den Widerstand und kämpfte - wieder einmal.
"Wie würdest Du Deine Oberweite denn beschreiben?" wurde ich gefragt. "Als müsste ich zehn Kinder nähren!" kam meine spontane Antwort. "Und? Nährst Du zehn Menschen an Deiner Brust?" Und allmählich wurde mir klar: ich hatte nie eigene Kinder gehabt (vielleicht wegen meiner eigenen verdorbenen Kindheit), dennoch war ich der "mütterliche" Typ geworden, der sich um alles und alle kümmerte, jede Aufgabe verantwortungsbewusst übernahm - und eigene Pläne dafür immer wieder zurückstellte. Ich war wie eine Amme geworden, an die jeder "andocken" konnte, weil es bei mir immer Unterstützung gab. Nach wie vor lebte ich offensichtlich das Muster "Wenn ich genug für andere tue, bekomme ich Anerkennung zurück. Dann werde ich gesehen und respektiert!" Was ich jedoch übersah: ICH sah mich immer noch nicht, ICH respektierte mich immer noch nicht - bedingungslos, ohne Tun, ohne Leistung - ICH musste so "massiv" werden, damit ICH mich endlich ansehen musste, weil ich optisch an mir nicht mehr vorbeikam. Und mein Coach ergänzte: "Wenn Du innerlich leer bist und Dein Raum innen klein ist, musst Du den Raum nach außen ausdehnen, damit Du Dich darüber endlich wahrnimmst!" Das konnte ich nachvollziehen und annehmen. Und es war die Wende...
Mehr und mehr beschäftigte ich mich mit meinem Fühlen und Handeln, meinen Sehnsüchten und Gefühlen, las Bücher über "emotionales Essen", über unerfüllte Lebensträume. Mehr und mehr gelang es mir, meinen Körper als das zu sehen, was er in Wirklichkeit war: der neutrale (und schonungslose) Spiegel meines eigenen Denkens, Fühlens und Handelns. Er war an gar nichts schuld! Ich lernte, mir selbst zu vergeben, mit mir selbst "barmherzig" zu sein und anzuerkennen, dass es gute Gründe gegeben hatte, dass ich mich - bewusst und unbewusst - für einen derartigen Lebensweg entschieden hatte. Auch mich traf also keine Schuld. Menschen folgen immer ihren "Überlebensmustern" und dieses war offensichtlich noch aktiv.
Doch mir wurde auch endlich bewusst: ich konnte die Vergangenheit so stehen und hinter mir lassen und mich neu entscheiden. Mittlerweile wusste ich viel mehr über mich und meinen Seelenplan, was mir gut tat, wer ich war. Die Kilos purzelten (egal, was ich aß...) und meine Wahrnehmung von meiner Oberweite begann ebenfalls, sich zu verändern. Der Körper zog nach und veränderte sich ebenfalls. Heute kann ich meinen Körper mehr und mehr lieben, ihn achten und möchte ihn so gut es geht schützen und unterstützen. Weil er - und ich - es verdient haben, möglichst lange ein freies, glückliches und gesundes Leben zu führen. Meine Schwester hat mir gezeigt, was körperliche Gesundheit bedeutet - und wie schnell sich das Leben verändern kann, wenn diese verloren geht...